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Ganz allmählich und gleichmäßig wuchsen der Schreck und die Wut. Stumm mußte
ich zusehen, wie alles rationell und ohne Zögern auf das Ende zulief, das schäbigste
Ende, festgeschnallt auf dem Todessitz, dem elektrischen Stuhl. Nun bringen sie uns
wirklich um, diese Schweine! Die deutsche Regierung läßt uns keine andere Wahl,
hatte er gesagt. Diese Schweine, sie alle sind Schweine, diese vier und die in der
Regierung genauso, wer sind die größeren Schweine? Wer bringt uns um? Die uns
hier in die Luft sprengen oder die uns hier nicht rausholen, obwohl sie es könnten?
Wer fesselt uns? Die hier oder die uns einfach opfern, als wären wir nichts? Als
wären wir nie jemand gewesen in unserem Land oder so nichtswürdig, daß man nicht
einmal mit uns redet, nicht einmal eine Trostfloskel durchgeben läßt oder eine
Ermunterung, mit der sie uns andeuten, wir kümmern uns, wir tun was für euch! Wer
fesselt uns, daß wir in Schreie ausbrechen allein von den Schnitten der Nylonfäden
an den Handgelenken? Wer hält uns den Sprengstoff vors Gesicht, die hier oder die,
denen das Gefängnisleben von neun Staatsfeinden lieber ist als die Freiheit von
neunzig Passagieren? Wer sind diese Staatsfeinde, die für uns einfache Reisende
keine Gefahr bedeuten, die werden doch nur deshalb nicht freigelassen, weil sie den
Herrschaften da oben gefährlich werden könnten!
So wehrte ich mich gegen die Fesseln. Dem Anführer ging es nicht schnell genug, er
feuerte seine Leute an, half mit, schnürte fester, zog da und dort einen Knoten nach,
als hinge davon noch etwas ab.
Es kamen nun die Frauen an die Reihe. Was für ein Vorrat an Strümpfen! Sie
reichten für alle. Ingeborg nahm schnell ihre Uhr von der Hand und hängte sie ins
Netz. Die vier wurden hastiger. Sie fesselten erst Ingeborg, dann mich, schubsten
uns auf die Sitze und schnallten uns an. Obwohl die Strümpfe gar nicht so fest am
Gelenk schnürten, wie ich erwartet hatte, wuchs meine Wut. Ich sah mich gefesselt
als kleines Kind, wir spielten Räuber und Gendarm oder Indianer, und einmal hatte
mich der Nachbarsjunge Roland, der große, freche Roland, so fest gebunden, daß
ich nicht entkommen konnte und geschrien habe, gefesselt geschrien. Nun in der
gleichen Lage, ich war das Kind, gefesselt, aber es war schlimmer, denn ich schrie
nicht, ich konnte nicht schreien, ich schrie nur in mich hinein. Räuber und Gendarm,
da gab es zwei Parteien, aber dies war ein neues Spiel, endlich verstand ich die
Regeln, jetzt hatten sich die Räuber und die Gendarmen gegen uns verbündet, sie
arbeiteten alle zusammen, sie dachten alle nur an sich, und uns benutzten sie nur,
damit sie ihre Rolle weiterspielen durften, damit sich ja nichts ändere in der Welt! Uns
lassen sie in die Luft fliegen, in zweiundzwanzig Minuten, hat er eben gesagt, die
Räuber und die Gendarmen, die selber die größte Angst haben, in die Luft zu fliegen,
und niemanden freilassen, weil sie die eigene Haut retten wollen! Und unsere Haut,
was zählt schon unsere brennende, klebrige, stinkende Haut, wir sind Verbraucher,
Steuerzahler, Wählerstimmen, wir werden geopfert, auf die schweißfeuchten Sitze
geschmissen und in die Luft gejagt! Nur damit die, die wir gewählt haben, die aus
allen Parteien mit ihrer großartigen Einigkeit, sich ein bißchen sicherer fühlen dürfen
auf ihren Posten da oben! Ich wünschte alle die Herrschaften ins Flugzeug, die über
unsere Hinrichtung beschlossen hatten, ich wünschte sie gefesselt und fertiggemacht
und hoffnungslos, eingefettet von ihren eigenen Wörtern, Paragraphen und Phrasen,
die ihnen aus den Mündern tropften.
Ich wollte nicht sterben und für die schon gar nicht! Nicht für den Staat, nicht für
diesen Staat. Nie werde ich mich in so einen Mann hineinfühlen können, der mit oder
ohne Begeisterung für sein Land sich zerreißen läßt! Ich dachte zum erstenmal, daß
es solche Männer nur in der Legende gibt. Niemand will krepieren, auch nicht der
größte Dummkopf von Patriot. Aber sie schienen so etwas zu erwarten, die
Generäle, die Minister, die Bürokraten, die Juristen, sie waren mir alle eins, ich sah
sie an großen runden Tischen sitzen, die staatspolitische Entscheidung mit dem
Zigarettenrauch wägend und ausatmend, mit einem Schluck Cognac die Staatsräson
abschmeckend, diese Juristen, ich kannte ihre Gesichter, ich war schließlich
Anwaltsgehilfin gewesen lange genug. Vor ihrer Gleichgültigkeit und ihren
Paragraphen und ihrer Gewinnsucht war ich geflohen, und nun entschieden sie über
mich, diese Herren, die vergessen haben, daß wir hier Menschen sind, neunzig
Menschen und kein bißchen Staatsräson in unseren Köpfen, ich sah sie da sitzen,
tatenlos warten, bis das Ultimatum abläuft, noch zwanzig Minuten, halb tot wie
Fische zappelten wir über den Kabinettstisch, der Sauerstoff ging aus, noch zwanzig
Minuten, dann werden die toten Fische endlich tot sein und die Herren nicht mehr
belästigen, die schon weiterdenken und ihr Bedauern vorformuliert haben, die
Trauerfloskeln liegen parat für uns, die toten Fische im Kübel, die Rede an die Nation
ist längst vorbereitet, und uns geben sie noch neunzehn Minuten zu leben! Und ich
sah uns alle beim Staatsbegräbnis wieder, aber ich lag nicht auf dem Sargbett
ausgestreckt, ich stand, festlich gekleidet, vor der offenen Grube, ich war es, die den
Staat begrub und die Schaufel in der Hand hielt, eine Schaufel für den Kanzler, eine
Schaufel für den Krisenstab, eine Schaufel für das Grundgesetz, und ein Männerchor
raunte immer wieder den einen Satz DIE WÜRDE DES MENSCHEN IST UNAN-
TASTBAR, und alle Leute traten auf mich zu und drückten mir die Hand, aber
niemand sprach das Wort Beileid aus.
Ich hing an meinem letzten Restchen Leben, an den Händen, die mir brannten, an
den hundert Kilo schweren Beinen, den kochenden Venen, an dem zersprengten,
konfusen, zuckenden Schädel, an dem Gestank, der aus den Falten des Körpers und
den Falten der Kleider kroch, ich hing an dem ranzigen Geruch, der alles
einschnürte, hing an der schniefenden Ingeborg und dem Kamelmilch trinkenden
Altlandser neben ihr, hing an den schäbigen braungelben und orangeroten Mustern
vor meinen Augen, die ich fünf Tage lang gebraucht hatte als Unterlage zum
Nachdenken, und hing an dem ganzen Dreck und der Erschöpfung, an allem, was
ich zu sehen noch fähig war. Ich konnte nichts mehr hergeben, womit ich mein Leben
hätte verlängern können, meine Flüche, meine Tauschangebote nützten nichts mehr.
Beten konnte ich auch nicht, ich wollte es nicht einmal versuchen, es war alles
gelaufen, niemand hörte mich, niemand wird mich mehr hören. Ich war allein und
hätte auch die nutzlose Wut abstreifen können. Ich versuchte, Frieden zu machen mit
allen, mit mir selber, es ging nur noch um mich, noch siebzehn Minuten nur um mich,
und alles andere war mein Problem nicht mehr.
Die beiden Mädchen, 28 und 31, rasten nach vorn und kamen wieder, mit mehreren
Schnapsflaschen bepackt, die sie unterm Arm und in der hochgereckten Hand
hielten. Im ersten Augenblick dachte ich, sie werden uns Gin oder Wodka einflößen
und mit uns auf den Tod prosten oder auf ähnliche Art eine heilige satanische
Kommunion feiern. Dann waren Schläge zu hören, harte Schläge und ein Gluckern.
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